Leipzigs Kripo und der Fall Ofarim: Ermittlungen inmitten eines Tsunamis

Als im Oktober 2021 das Leipziger Hotel „The Westin“ unter Antisemitismusverdacht gerät, steht die Kripo vor einer schwierigen Aufgabe: Die Wahrheit zu finden, obwohl jeder schon zu wissen glaubt, was passiert ist. Gegenüber der LVZ schildern Ermittler, wie sie die Lüge enttarnten.

„Dieser Fall hatte die größte mediale Resonanz, die wir bisher als Polizeidirektion erlebt haben.“ Leipzigs Kripo-Chef Lutz Mädler (45) sitzt in seinem Büro und wirkt noch immer ein bisschen beeindruckt von dem, was da im Oktober 2021 über die Polizei und eigentlich die ganze Stadt hereinbrach. Eine Woche ist es jetzt her, dass der Musiker Gil Ofarim (41) im Verleumdungsprozess am Landgericht gestand, die antisemitischen Beleidigungen vor zwei Jahren im Hotel „The Westin“ nur erfunden zu haben.

Aus dieser Lüge erwuchs etwas, was für die Ermittler in dieser Dimension neu war. Leipzig hat spektakuläre Mordfälle erlebt, tödliche Konflikte zwischen Rockerbanden und einen Krieg um die Macht in den Diskotheken. Doch all das war im Hinblick auf das öffentliche Interesse nichts verglichen mit dem Fall Ofarim. „Ein medienwirksamer Verdacht einer antisemitischen Straftat gegenüber einer Person der Öffentlichkeit im Osten Deutschlands“, sagt der Leiter der Kriminalpolizeiinspektion. „Ich dachte mir, dass das eine Welle geben würde. Aber ein solcher Tsunami in Medien und Social Media war nicht absehbar.“

Unverständnis für Kommentar von Ex-Außenminister Maas

Als sich diese riesige Welle am 5. Oktober aufzutürmen beginnt, laufen in der Polizeidirektion (PD) längst erste Maßnahmen. Gegen Mittag erhält Polizeisprecher Olaf Hoppe Kenntnis vom Instagram-Video, in dem Ofarim sichtbar bewegt schildert, dass Frontoffice-Manager Markus W. (35) ihn am Abend zuvor in der Lobby des „Westin“ aufgefordert habe, seine Kette mit Davidstern abzunehmen, damit er einchecken könne. Hoppe informiert unmittelbar das Dezernat Staatsschutz, wenige Stunden später bekommt die Staatsanwaltschaft den Fall zur Prüfung auf strafrechtliche Relevanz. Noch bevor faktisch alle deutschen Medien sowie internationale Branchengrößen wie CNN und New York Times das Thema aufgreifen, beschreitet man bei der PD in der Dimitroffstraße den Dienstweg. Diese nüchterne Vorgehensweise sollte kennzeichnend bleiben bis zur Anklage.

Vor dem Hotel demonstrieren an jenem Abend rund 500 Menschen gegen Antisemitismus. Die Frage, ob das alles überhaupt so war, wie es Gil Ofarim behauptet hat, stellt sich für erstaunlich viele Leute nicht. Selbst Mitglieder der sächsischen Staatsregierung wie Justizministerin Katja Meier (Grüne) und ihr Kabinettskollege Martin Dulig (SPD) sind mit voreiligen Tweets zur Stelle. Doch besonders ein Kommentar sorgt bei den Ermittlern für Unverständnis. In einer Rede zeigt sich Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD) „fassungslos“ ob des vermeintlichen Geschehens in der Pleißemetropole. Judenfeindlichkeit sei Alltag im Land, meint er, „Leipzig ist kein Einzelfall“. Damit so Mädler, „hat er eine ganze Stadt, eine ganze Region in den antisemitischen Fokus gerückt“.

Polizei geht in aufgeheizter Atmosphäre auf Tauchstation

Wie soll man in einer derart aufgeheizten Atmosphäre ermitteln? Wie Belastendes, aber auch Entlastendes finden? Die Polizei geht mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit erst einmal auf Tauchstation. Am 6. Oktober ergeht von Ermittlerseite eine dringende Empfehlung zur Pressearbeit: „Zum Geschehensablauf liegen bisher keine gesicherten Erkenntnisse vor und es gibt widersprüchliche Aussagen zum Kerngeschehen. Nach außen sollte zurückhaltend mit Verweis auf noch laufende Ermittlungen agiert werden.“ Bereits am Vorabend hat Hotelmanager Markus W. auf einem Leipziger Polizeirevier Anzeige gegen Ofarim wegen Verleumdung erstattet. Er habe den Vorfall „deutlich abweichend von den Angaben des Künstlers dargestellt“, sagt danach Leipzigs Polizeisprecher in die Kameras. Ofarim wird erst Tage später den Manager anzeigen.

Plötzlich ist auch die Sicherheit beider Protagonisten gefährdet. Markus W. bekommt zunächst einen Dienstwagen, weil dem Hotel die übliche Fahrt mit der Bahn zu gefährlich scheint. Wenig später werden seine Partnerin und er zu einem unbekannten Aufenthaltsort gebracht. Zehn Tage taucht W. unter, verlässt schließlich Leipzig. Nicht einmal seine Familie weiß zu diesem Zeitpunkt, wo er ist. Die Polizei hält das angesichts des Gefährdungspotenzials bis hin zu Morddrohungen für angemessen, hätte andernfalls selbst eigene Schutzmaßnahmen eingeleitet. Auch die Sicherheit Ofarims ist ein Thema, regelmäßig gibt es Absprachen der Leipziger Polizei mit den Kripo-Kollegen in München. Etliche Posts aus den sozialen Medien werden wegen Hasskriminalität sowohl in Sachsen als auch in Bayern strafrechtlich verfolgt.

Zwei Ermittlerinnen rund um die Uhr im Einsatz

Trotz des hohen medialen Interesses gibt es keine spezielle Ermittlungsgruppe oder Soko. Diese Organisationsformen sollen auch weiterhin nur bei Verbrechenstatbeständen oder einer erheblichen Anzahl von Straftaten als Schwerpunkt gebildet werden. Zwei erfahrene Beamtinnen werden ausschließlich mit den Untersuchungen zu dem Abend im „Westin“ beauftragt. Nur wenige sind einbezogen in die Kernermittlungen, Erkenntnisse sollen vertraulich behandelt werden. Doch der Nachrichtenstrom fließt unablässig, die Vorverurteilungen nehmen zu, vor allem über soziale Netzwerke.

Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, weil die Gefahr besteht, dass Zeugen durch die Öffentlichkeit zu stark beeinflusst werden. Am Ende können sie womöglich nicht mehr auseinanderhalten, was sie an jenem Abend tatsächlich in der Hotellobby mitbekommen haben und was lediglich irgendwo im Internet zu lesen war. Trotz des Zeitdrucks steht die Genauigkeit im Vordergrund und es ist den Leipziger Ermittlerinnen wichtig, die Vernehmungen möglichst selbst durchzuführen. Tausende Kilometer fahren sie durchs Land und reden mit früheren Gästen des „Westin“. „In diesen Tagen und Wochen waren wir eigentlich rund um die Uhr im Einsatz“, erinnert sich die Ermittlungsführerin.

Schon eine Woche nach dem Vorfall im Hotel reisen die Kriminalistinnen und der ermittelnde Staatsanwalt nach München, um Gil Ofarim zu vernehmen. Was durchaus speziell ist, weil der Musiker ohnehin unablässig über den Leipzig-Vorfall spricht und immer wieder Interviews gibt. „Eine fortwährende mediale Beschuldigtenvernehmung“, nennt der Leiter der Kripo diese Konstellation. Aber der Promi ist auch sehr kooperativ, rückt seine Lederjacke, das T-Shirt sowie eine Gebetskette und den Anhänger mit dem Davidstern heraus. Es sind Teile der Originalgarderobe, mit der er an jenem Oktoberabend in Leipzig war. Nachdem der forensische Gutachter Dirk Labudde den Stern auf keinem der Überwachungsvideos von Ofarims Ankunft und in der Lobby ausmachen kann, soll der Tatablauf nachgestellt werden. Bei möglichst gleichen Lichtverhältnissen mit einem Kripo-Mann als Statisten, der von Größe und Statur dem einstigen Teenie-Schwarm nahekommt.

Rekonstruktion wie bei einem Schusswaffengebrauch

Drei Stunden lang dauert diese Rekonstruktion Anfang Dezember 2021 im „Westin“. Es ist eine kriminalistische Methode, wie sie nach einem Schusswaffengebrauch durch Polizisten oder nach Tötungsdelikten eingesetzt wird, aber wohl noch nie wegen eines Verleumdungsfalls. „Wir haben mit einem enormen Aufwand ermittelt“, erklärt der Leitende Kriminaldirektor. Es ist Corona-Zeit, im „Westin“ sind weniger Gäste als sonst. Und die können einen Polizisten beobachten, der scheinbar ziellos immer wieder auf und ab geht, den Schmuck offen trägt oder unter dem T-Shirt verschwinden lässt. Klar ist danach: Der Davidstern ist auf den nachgestellten Bildern der Überwachungskameras aus der Lobby deutlich zu sehen, wenn er sichtbar getragen wird. Die Originalbilder vom 4. Oktober lassen den auffälligen Schmuck hingegen erst funkeln, als Ofarim das Hotel schon wieder verlassen hat und diesen vor dem Eingang wohl unter dem Shirt hervorzieht.

Während die Kripo das sogenannte Kerngeschehen noch im Oktober weitgehend abgearbeitet hat, bringen die Ergebnisse dieser Rekonstruktion für Ermittlungsbehörden letzte Gewissheit: So, wie es der Musiker in seinem Instagram-Video und danach immer und immer wieder behauptet hat, kann es nicht gewesen sein. Es gibt für sie keine objektiven Hinweise, dass Ofarim die Davidstern-Kette im Hotel sichtbar getragen hat. Man behandelt die Erkenntnisse zunächst weiter streng vertraulich. Vom forensischen Gutachten zur Sichtbarkeit von Ofarims Davidstern haben nur eine Handvoll Personen Kenntnis.

Ende März 2022 ist Ofarims folgenschwere Anschuldigung auch offiziell als mutmaßlicher Schwindel enttarnt. Da lässt die Staatsanwaltschaft alle Tatvorwürfe gegen den Hotelmanager fallen und klagt den Musiker wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung an. „Der Fall hat gezeigt, dass Exekutive und Judikative vertraut werden kann und der Rechtsstaat einer Social-Media-Welle standhält, mag sie noch so groß sein“, konstatiert Mädler. Er betont aber auch, dass Antisemitismus zu verurteilen sei und diesbezügliche Straftaten konsequent durch die Ermittlungsbehörden verfolgt würden.

,,Das Finden der Wahrheit hat Vorrang“

So viel Ermittlungsaufwand für ein Verfahren, das gegen eine Geldauflage von 10 000 Euro eingestellt wird? „Hier ist es wirklich so, wie es das Landgericht begründet hat“, meint Mädler. „Das Finden der Wahrheit hatte Vorrang vor einer Bestrafung.“ Ihm sei in seiner Dienstzeit kaum ein Fall bekannt, bei dem der Wahrheitsbegriff derartige Bedeutung hatte: für eine zu Unrecht beschuldigte Person, für ein Hotel, eine Stadt und eine ganze Region.

Man darf vermuten, dass dies vielleicht auch deshalb so ist, weil eine Lüge selten so viel zerstört hat wie im Fall Ofarim.